Mehr als die Hälfte der DSAG-Mitglieder hat die Migration auf S/4HANA noch vor sich, berichtet Jens Hungershausen Vorstandsvorsitzender der SAP-Anwendervereinigung im Interview. Während SAP künftig bestimmte Innovationen nur Cloud-Nutzern liefern will, fordert die DSAG, dass alle SAP-Kunden darauf zugreifen können.
Wie kommen die Migrationen auf S/4HANA gerade voran?
Die Zahl der Migrationen nimmt zu, allerdings hat die Hälfte der Teilnehmer der diesjährigen DSAG-Investitionsumfrage diesen Systemumbau noch vor sich. Es gibt hier also noch ein großes Potential und auch einen Druck auf die Unternehmen, die Migration in Angriff zu nehmen und die Transformation rechtzeitig zu starten.
Die Services und die Unterstützung der SAP bei der Migration sind gut, berichten Anwender. Wer allerdings sein Altsystem eins zu eins in die neue Welt überführt, der kann keinen Business Case rechnen. Gibt es so keine Effizienzgewinne?
Mit einer rein technischen Migration ist in Sachen Effizienz wenig gewonnen. Die Benefits, aus denen ich einen Business Case rechnen kann, kommen erst dann, wenn ich mit S/4HANA Prozesse verschlanke und einfacher gestalte. Dafür muss ich eine Business Transformation in Angriff nehmen. Außerdem kommt es darauf an, wo ein Unternehmen aktuell steht. Wer von der Business Suite ohne eine HANA-Datenbank kommt, der hat in der neuen Welt Geschwindigkeitsvorteile bei Abfragen. Damit kann ich allerdings definitiv keinen Business Case rechnen.
Nun sind nach Aussage von SAP Partnern viele Unternehmen mit einer rein technischen Migration gestartet und wollen die Optimierungen in späteren Schritten hinzufügen. Wie funktioniert das aus Ihrer Sicht?
Ich habe keinen Überblick darüber, welche Optimierungen die DSAG-Mitglieder nach einer technischen Migration im zweiten Schritt vornehmen. Berichten kann ich aus eigener Erfahrung im technischen Großhandel. Wir machen dort die Transformation erst im Nachgang. Das kann funktionieren. Es ist aber schwierig, weil bestimmte Anforderungen aus dem Tagesgeschäft heraus Modifikationen am System und an den Prozessen behindern. Generell ist ein zweistufiges Verfahren, bei dem das Optimieren der Prozesse erst im zweiten Schritt der Migration geplant ist, eine mindestens ebenso große Herausforderung, wie ein einstufiges Verfahren, bei dem die Optimierung bereits im ersten Schritt erfolgt.
IT-Matchmaker® Podcast:Jens Hungershausen, Vorstandsvorsitzender der SAP-Anwendervereinigung, im Interview mit Jürgen Frisch, Redakteur der IT-Matchmaker®.news, zur Migration von S/4HANA.
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In der Neuordnung des SAP Portfolios wandern Funktionen, die bisher kostenlos waren, in kostenpflichtige Extensions, kritisiert die DSAG. Welche Funktionen sind das und wie gehen Unternehmen damit um?
Diese Funktionen betreffen beispielsweise das Integrated Business Planning, die Variantenkonfiguration und die Verfügbarkeitsprüfung beim Supply Chain Management. Bei den beiden letztgenannten Beispielen liefert die SAP Advanced-Versionen mit erweiterten Fähigkeiten, für die dann Zusatzkosten anfallen. Die Unternehmen werden sich den Mehrwert genau ansehen und prüfen, ob sie mit der erweiterten Variantenkonfiguration und der Verfügbarkeitsprüfung trotz der Gebühren einen Business Case rechnen können.
Wie sieht denn aktuell die Akzeptanz der Cloud aus und wie kommen die Angebote Rise with SAP und Grow with SAP an?
Das Thema Cloud ist bei den DSAG-Mitgliedern angekommen, und es gibt nur noch wenige Unternehmen, die ausschließlich On-Premises unterwegs sind. Die Akzeptanz der Cloud ist grundsätzlich gegeben und alle Unternehmen haben inzwischen auch verstanden, dass SAP und auch andere Softwareanbieter in diese Richtung gehen. Angebote wie SAP Rise und SAP Grow sollen die Migration in die Cloud vereinfachen. SAP selbst berichtet von großen Erfolgen. Wir werden uns genau ansehen, welche der in Aussicht gestellten Mehrwerte bei der Transformation in der Praxis tatsächlich zum Tragen kommen. Beide Angebote entwickeln sich weiter. SAP Rise ist jetzt ungefähr zweieinhalb Jahre am Markt, und SAP hat dort mehrmals Funktionalitäten und Services geändert. Wir werden sehen, wie diese Optimierungen wirken.
Das Cloud Pricing der SAP kommt bei den DSAG Mitgliedern nicht sehr gut an. Was genau kritisieren Sie hier?
Wir sind der Meinung, dass sich das Pricing an End-to-End-Prozessen orientieren muss. Im Moment ist es schwierig, die für einen End-to-End-Prozess notwendigen Preiskomponenten zu identifizieren und sicherzustellen, dass alle Elemente auch funktional verfügbar sind. Ein weiteres Problem sind die Metriken, also die abrechenbaren Einheiten, die in der Preisliste drinstehen. Sie passen nicht für alle Unternehmensgrößen. Insbesondere für den Mittelstand sind die Einstiegshürden an einigen Stellen deutlich zu hoch.
Scharf in der Kritik steht SAPs Absicht, einige Innovationen künftig nur noch in der Cloud zur Verfügung zu stellen. Welche Funktionen vermissen Sie für On-Premises-Kunden?
Da es in SAPs Ankündigung um künftige Innovationen geht, können wir jetzt noch nichts vermissen. Generell geht es um Innovationen wie Künstliche Intelligenz und Green Ledger, also die Technologie für ein CO2-Reporting. Diese sollen künftig ausschließlich Kunden mit einem Vertrag für SAP Rise oder SAP Grow bekommen, die eine Private Cloud Edition oder eine Public Cloud Edition von S/4HANA nutzen. Wir sind der Meinung, dass SAP alles, was sie für die S/4HANA Private Cloud entwickelt hat, ohne Probleme auch für S/4HANA On-Premises zur Verfügung stellen kann. Schließlich sind die Schnittstellen der beiden Lösungen identisch.
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Es wäre also technisch möglich, ein Green Ledger als Cloud-Service an S/4HANA On-premises anzubinden?
Ja, denn die Code-Linien der beiden Produkte sind ja gleich. Allerdings entwickelt sich die Lösung Green Ledger gerade erst, und wir können nicht sagen, welche Schnittstellen dort künftig zum Einsatz kommen. Diese müsste man dann möglicherweise bei S/4HANA On-Premises nachrüsten.
Rechnen Sie damit, dass Unternehmen innovative Funktionen künftig über Cloud-Services von Drittanbietern beziehen, wenn SAP sie den eigenen On-Premises-Kunden nicht liefert?
Das ist sicher ein Risiko für die SAP. Da die Schnittstellen der Lösungen geöffnet wurden, haben es die Unternehmen nun einfacher als früher, Funktionalitäten in einzelnen Prozessen oder auch Innovationen von Drittanbietern zu beziehen. Ob das am Ende immer sinnvoll ist, muss man sehen. Gerade bei Künstlicher Intelligenz ist es wichtig, mit welchen Daten die Algorithmen trainiert werden. SAP hat in den vergangenen 51 Jahren bei Unternehmensabläufen einen enormen Wissensvorsprung aufgebaut, und der kann nun als Input in analytische Modelle einfließen.
Die Verfügbarkeit von Implementierungspartnern galt lange als Hürde bei S/4HANA Migrationen. Nun meldet die ISG Provider Lens SAP Ecosystem Germany, dass die SAP Partner ihr Angebot stark ausgeweitet haben und somit genügend Kapazität zur Verfügung steht, um alle Kunden vor dem Wartungsende von SAP ERP zu bedienen. Stimmen Sie zu?
Diese Studie kenne ich nicht und kann daher nichts dazu sagen. Generell bin ich hier aber sehr skeptisch. Die Komplexität der Systemumstellung lässt sich nicht alleine über die Anzahl der Berater lösen, sondern diese brauchen immer die passende Qualifikation, um den nötigen fachlichen Input zu geben. Insofern sind die Ressourcen aus meiner Sicht weiterhin knapp, und ich kann alle SAP-Anwender nur aufrufen, die Migration auf S/4HANA nun zügig anzugehen. Das Jahr 2027 kommt schnell, und es ist noch lange nicht sicher, ob kurz vorher im SAP-Ökosystem genügend fachliche Expertise verfügbar ist, damit alle Unternehmen die gewünschten Projekte kurzfristig umsetzen können. Jürgen Frisch
Im Gespräch
Jens Hungershausen ist seit Oktober 2020 Vorstandsvorsitzender der Deutschsprachigen SAP-Anwendergruppe e. V. (DSAG). Hauptberuflich ist er Bereichsleiter IT/CIO und Prokurist bei der MEGA eG, einem genossenschaftlich organisierten Handelshaus, das Handwerkerbedarf für Sanierung, Renovierung und Modernisierung verkauft.