Der Einzelhandel gilt seit Jahren als Opfer des e-Commerce. Einige Händler haben zugemacht oder Filialen geschlossen. Nun jedoch investieren ursprünglich rein digitale Marken in stationäre Flächen.
Ein vom Immobilienunternehmen JLL Ende 2018 veröffentlichter Bericht sagt voraus, dass Online-Einzelhändler in den USA über die kommenden fünf Jahre 850 Filialen eröffnen. Dieser Trend zeigt den Wert einer physischen Präsenz. „Jeder behauptet, dass der stationäre Handel stirbt, aber die E-Commerce Marken drängen ziemlich schnell und aggressiv in den stationären Bereich“, berichtet Taylor Coyne, Forschungsleiter Bereich Retail bei JLL, in dem Bericht.
Trotz weiter steigender Online-Umsätze bevorzugt die Mehrheit der Verbraucher immer noch das Einkaufserlebnis im Store. Mehr und mehr ursprünglich digitale Marken nutzen den stationären Handel zu ihrem Vorteil. Erste Anzeichen, dass auch Pure Player und Online-Startups immer mehr in Richtung offline schielen, zeigten sich bereits vor drei Jahren auf der Fachmesse EuroShop. Auf der nächsten Messe im Februar 2020 dürfte diese Entwicklung eines der großen Themen der Branche sein.
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Das Beste aus beiden Welten kombinieren
In den USA hat Warby Parker, ein Online-Anbieter für Brillen, seine erste stationäre Fläche drei Jahre nach seiner Gründung im Jahr 2013 eröffnet. Heute betreibt das Unternehmen über 90 Läden in den USA und Kanada. Warby Parker gilt beispielhaft als eine der ersten rein digitalen Marken, bei denen sich Online und Offline als Kanäle ergänzen.
Das bislang nur online agierende Beauty-Unternehmen Glossier hat kürzlich mit seinen Pop-Up Shops, Showrooms und dem Flagship Store in New York für Aufsehen gesorgt. Es wurde als Disneyland für Erwachsene bezeichnet, das ein besonderes Einkaufserlebnis bietet. Selbst Online-Gigant Amazon – der Erzfeind der 1A-Lagen – hat sich mit Amazon Books, Amazon Go und Amazon 4-Star in den stationären Handel gewagt. Diese Unternehmen straffen laut JLL-Forschungsleiter Coyne ihre Angebote und machen das Erlebnis im Store zum Mittelpunkt.
Ein Flagship-Store als Szene-Treffpunkt
Der Ende des vergangenen Jahres eröffnete Flagship Store von Glossier in New York erstreckt sich über drei Etagen und ist als Szene-Treffpunkt angelegt, an dem die Kunden die Marke und sich gegenseitig kennenlernen. Die gemeinsam mit Gachot Studios und dem Architekturbüro PRO entwickelte Fläche lädt Interessenten dazu ein, Produkte auszuprobieren und einzukaufen, und in das Glossier-Universum einzutauchen. Laut einem Bericht in der New York Times bietet der Store genau das, was wohl in der digitalen Ära bald schon zum Must Have wird: Gemeinschaft, Gespräche und Geschichten.
In Europa hat der polnische e-Commerce Schuhhandel Eobuwie.pl kürzlich stationären Boden betreten und zwar mit einem völlig neuen Konzept. Der von Dalziel & Pow mit Sitz in Großbritannien entworfene Store ist digital unterstützt: Er hat kein physisches Produkt mehr auf der Fläche. Die Kunden suchen und bestellen stattdessen auf interaktiven Touchscreen-Tablets ihre Schuhe, die dann aus dem riesigen Lager über ein Regalsystem hinter der Kasse ausgegeben werden.
Unterhaltung, Service und sofortiger Kauf
„Dieses ambitionierte und anspruchsvolle Konzept verbindet den Komfort des Online-Shoppens mit der unmittelbaren Bedarfsbefriedigung im stationären Handel“, erläutert David Dalziel, der Creative Director von Dalziel & Pow, der auch schon für die Online-Marken Missguided, Boden oder Joe Browns gearbeitet hat.
Laut Dalziel bieten diese neuen Formate Service und Unterhaltung und brechen dabei oft alte Regeln der Kundenbetreuung, Personalausstattung, Provisionierung oder auch der Beratung, um das Kundenerlebnis zu optimieren. „Erlebnisse stehen bei den Marken, die neu auf die Fläche kommen, absolut im Mittelpunkt“, führt Dalziel aus. „Unterstützt die Einzelhandelsfläche das Online-Angebot, dann können die Effekte enorm sein.“
Will man heute die Vorteile stationärer Geschäfte verstehen, sollte man die traditionellen Maßnahmen für erfolgreiche Einzelhandelsgeschäfte überdenken, fordert Michelle Du-Prat, Mitgründerin von Household Design. „Kunden probieren Produkte im Laden aus und kaufen sie dann online. Deshalb muss der Einzelhandel sich vom Quadratmeter-Umsatz als Gradmesser seines Erfolges trennen und die Funktion erkennen, die der Laden darüber hinaus erfüllt – als Treiber von Online-Umsätzen, der eine Markenliebe entwickelt und langfristige Kundentreue fördert.“
Laut Nigel Collett, dem Geschäftsführer der Architektur- und Designberatungsfirma rpa:group, geht es jetzt darum, sich auf die sogenannte Erlebnisrendite zu konzentrieren und nicht auf den Return on Investnment. Dabei würden kurzfristige Umsätze zugunsten der Schaffung langfristiger Kundenbeziehungen hintangestellt.
Ohne Ladenverkauf schrumpfen die Online-Umsätze
Eine neue Studie im Vereinigten Königreich lässt vermuten, dass Einzelhändler, die keine physische Fläche zusätzlich zu einer Transaktions-Webseite unterhalten, typischerweise 50 Prozent niedrigere Online-Umsätze verzeichnen als die Händler, die auch stationär vertreten sind. Die Untersuchung hat ergeben, dass die Umsätze im Einzugsbereich eines stationären Geschäftes durchschnittlich 106 Prozent höher liegen. Bei Sportbekleidung sind es bis zu 124 bis 127 Prozent, bei Mode und bei Elektronik – sogar 154 Prozent. Seit Eobuwie.pl seine sechs digital unterstützten Läden in Osteuropa eröffnete, hat das Unternehmen seinen Umsatz um satte 70 Prozent gesteigert. Weitere Läden sollen daher folgen.
Eine Studie in den USA zum Verhältnis zwischen Online- und stationärem Handel hat herausgefunden, dass die Eröffnung eines neuen Geschäftes in einem Markt zu durchschnittlich 37 Prozent mehr Traffic auf der Webseite des Einzelhändlers führt, im Vergleich mit der Webshop-Frequenz vor der Store-Eröffnung. Zudem lässt die Studie vermuten, dass der Verkehr auf der Webseite rückläufig ist, wenn ein Laden schließt.
Ein Handelsmix für gut informierte Kunden
„Bei der Planung müssen Einzelhändler berücksichtigen, wie die Präsenz von stationären Flächen, bei denen Kunden die Ware aus der Nähe betrachten, mit den Verkäufern interagieren und gegebenenfalls Artikel umtauschen können, die Beziehung zwischen Offline- und Online-Handel beeinflusst“, sagt der Bericht, der vom International Council of Shopping Centers (ICSC) veröffentlicht wurde.
Die ursprünglich digitalen Marken wie Allbirds oder Casper, die Geschäfte für Warensegmente von Herrenbekleidung bis zu Matratzen eröffnet haben, zeigen laut dem ICSC-Bericht, wie wichtig stationäre Geschäfte für den Handelsmix sind: „Ladenlokale sind Orte, an denen Marken real mit dem Kunden in Verbindung treten. Insgesamt sind die Kunden heute viel besser informiert als früher.“
Casper – der seit 2014 weltweit aktive Anbieter von Schlafzimmerausstattungen – hatte auf Wunsch seiner Kunden 2017 erst eine Reihe von Pop-Up Shops in Nordamerika eröffnet, bevor er Anfang 2018 sein erstes festes Geschäft aufmachte. „Der Wunsch, unsere Produkte persönlich zu erleben, hat exponentiell zugenommen“, begründen Mitgründer und Geschäftsführer Philip Krim ihre Expansion in den Einzelhandel. „Unsere Handelsflächen ermöglichen den nahtlosen Übergang von Online zu Offline und das halten wir für extrem wichtig für einen außergewöhnlichen Erlebniseinkauf.“
Auch Online-Dessousanbieter Adore Me machte 2018 auf Bitten seiner Kunden den Schritt in den stationären Handel. „Bei unserem Wachstumskurs war die Einrichtung von Geschäften in mehreren Städten der USA für uns ein spannender, aber auch logischer Schritt“, erinnert sich Iris Voltaire, Managerin für Business- und Marken-Entwicklung bei Adore Me. „Unserer Meinung nach hängt die Nachfrage nach physischen Geschäften mit dem emotionalen, intimen Aspekt zusammen, Dessous anprobieren zu wollen. Wir wollen unseren Kunden die Wahl geben, in unsere Läden zu kommen, und unsere Produkte und Stoffe anzufassen, und sogar eine persönliche Anprobe mit unseren Stylisten durchzuführen.“
Die grenzenlose Shopping-Reise als Ziel
Schlussendlich geht es bei allem um das Erlebnis; „Um einen erfolgreichen Store aufzubauen, sollten sich Einzelhändler von der Konkurrenz mit einer speziellen Handschrift in Sachen Erlebnis abheben“, rät Nathan Watts, Creative Director bei FITCH. „Wofür steht die Marke und wie wichtig ist das für den Kunden? Darauf aufbauend sollte man die Standorte und Sortimente wählen mit der Gründlichkeit eines Online-Händlers. Was Standorte und Eröffnungen angeht, kann hier weniger mehr sein, denn es ist hilfreich, bei solchen Investitionen Prioritäten zu setzen und fokussiert zu investieren anstatt mit der Gießkanne und in austauschbare Erlebnisse.“
Kunden wollen künftig eine grenzenlose Shopping-Reise und deshalb sollten Händler ihre Online- und Offline-Kanäle integrieren, damit eine durchgängige Markenerfahrung gesichert ist. „Die wirkliche Chance eröffnet sich, wenn Online und Offline nicht entgegengesetzte, sondern integrierte Kontaktpunkte sind, die der Kunde genießen soll und die Teile ein und desselben Einkaufserlebnisses sind“, erläutert Watts. Es ist keine Frage, ob Online oder Offline eine Zukunft haben, sondern wie Marken beides sinnvoll nutzen. Jürgen Frisch
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