Die herausfordernden Randbedingungen, in denen Unternehmen sich heute behaupten müssen, halten auch den ERP-Markt in ständiger Bewegung. Denn wenn es um die Bewältigung von Krisen, die Bedienung neuer gesetzlicher Anforderungen oder die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch effiziente Prozesse geht, ist immer auch das ERP-System als zentrale Schaltstelle der Unternehmens-IT gefragt. ERP-Experte Dr. Karsten Sontow nennt die wichtigsten ERP-Trends für 2024 und darüber hinaus.
ERP-Trend 1: Einsatz von Künstlicher Intelligenz
Bisher kam Künstliche Intelligenz im ERP-Umfeld vor allem durch Technologien wie dem „Machine Learning“ zum Einsatz, die selbst-optimierende Algorithmen nutzt, zum Beispiel, um Sprache zu erkennen und digital zu verarbeiten, Texte zu übersetzen oder auch um Entscheidungen zu optimieren und zu automatisieren: Diese Art von Künstlicher Intelligenz kommt beispielsweise schon in der Automatisierung im Bereich des Stammdatenmanagements oder in der automatisierten Anpassung von Dispositionsparametern zum Einsatz.
Nicht zuletzt durch den Siegeszug von ChatGPT, haben in diesem Jahr auch die Large Language Models für ERP-Systeme an Relevanz gewonnen. Viel Aufmerksamkeit erfährt in diesem Zusammenhang derzeit der Dynamics 365 Copilot in Verbindung mit der von ChatGPT bekannten generativen Künstlichen Intelligenz. Mit dem Dynamics 365 Copiloten kann man u. a. Fragen zu den Daten und Geschäftsvorfällen im System stellen, Informationen zusammenfassen oder auf Chat- und E-Mail-Nachrichten antworten. SAP hat hier bereits gleichgezogen: SAP Joule analysiert Daten aus betriebswirtschaftlichen Systemen und gibt Handlungsempfehlungen, ist allerdings nur als Public Cloud Anwendung verfügbar. ProAlpha hat durch die Übernahme der Empolis Gruppe sein ERP-Angebot um intelligente Service-, Wissens- und Content-Management-Produkte aus der Cloud erweitert. Es ist zu erwarten, dass hier im kommenden Jahr noch weitere ERP-Hersteller mit ähnlichen Anwendungen aufwarten.
Vor allem die größeren Unternehmen haben das Rationalisierungspotenzial von KI- in bestimmten Anwendungsbereichen erkannt. Sontow geht davon aus, dass auch die kleinen und mittleren Unternehmen dieses Potenzial bald für sich entdecken und ausschöpfen werden: „Wird KI in ERP-Lösungen integriert, führt das im Rahmen der Unternehmensprozesse zu mehr Effizienz und Transparenz – dem kann man sich nicht verschließen“, erklärt Sontow. „Der Einsatz von KI dürfte sich auch bald in weiteren Anwendungsfeldern etablieren.“
ERP-Trend 2: Bessere Integration der ERP-Peripherie
Das Schnittstellenmanagement ist im ERP-Umfeld seit jeher ein Thema und die Frage, ob bei Schnittstellen der Nutzen oder der Aufwand überwiegt, hat immer wieder die Diskussion um Best-of-Breed-Lösungen versus „alles aus einer Hand“ befeuert. Einfachere Methoden der Anbindung und die Verfügbarkeit von Standard-Schnittstellen, die von den Spezialisten für eine Vielzahl von gängigen ERP-Systemen angeboten werden, haben dem Thema „Schnittstellen“ mittlerweile einiges von seinem Schrecken genommen. Gleichzeitig wird die Anbindung möglichst vieler eingesetzter Systeme im Sinne des Datenaustauschs immer wichtiger.
Ein Grund hierfür ist z. B. die EU-Richtlinie zum jährlichen Nachhaltigkeitsreporting, die ab 2024 noch mehr Unternehmen betrifft. Die für das Nachhaltigkeitsreporting bzw. eine CO2-Bilanzierung benötigten Informationen finden sich zum Teil als Stamm- und Bewegungsdaten im ERP-System. Werden in einzelnen Unternehmens- bzw. Aufgabenbereichen Speziallösungen eingesetzt, sollten diese im Sinne des Datenaustauschs für die Berichterstattung optimal miteinander kommunizieren können.
Die Ergebnisse der Studie „ERP in Praxis 2022/2023“ haben bereits eine deutliche Zunahme von Digitalisierungsvorhaben in der ERP-Peripherie gezeigt. Zu den Klassikern bei der ERP-Anbindung gehören beispielsweise IIoT, MES, MDE und PLM/PDM aber auch „Best-of-Breed“-Lösungen im Customer Relationship Management oder im Dokumentenmanagement. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren verstärken und auch weitere Speziallösungen einbeziehen.
„Eine durchgängige Digitalisierung der Geschäftsprozesse ist sicherlich nicht nur im Hinblick auf Nachhaltigkeitsreporting erstrebenswert“, weiß Sontow. „Die Verwendung des ERP-Systems als zentraler Informations-Hub, in dem die Daten aus allen eingesetzten Systemen zusammenfließen und dort für jede Art von Reports und Analysen genutzt werden können, erhöht die Transparenz aller Geschäftsprozesse und zeigt damit z. B. Ansatzpunkte für Effizienzsteigerungen auf.“
ERP-Trend 3: Abbildung von Nachhaltigkeitszielen
Neben der Unterstützung beim Nachhaltigkeitsreporting leistet ERP-Software auch einen unmittelbaren Beitrag zur Steigerung der Nachhaltigkeit eines Unternehmens. ERP-Systeme bilden Prozesse digital ab und sind grundsätzlich darauf ausgerichtet, für eine optimale Nutzung der Ressourcen zu sorgen. So werden heute mit Hilfe der ERP-Software z. B. eine Vielzahl von Dispositionsentscheidungen (z. B. im Einkauf oder in der Produktionsplanung) getroffen, die einen maßgeblichen Einfluss auf die CO2-Bilanz eines Produktes bzw. eines Unternehmens haben.
Eine Aufgabe der kommenden Jahre wird sein, neben den klassischen Zielgrößen wie Kosten, Qualität und Termintreue auch Nachhaltigkeitsziele im Rahmen der Disposition stärker zu berücksichtigen.
„Ein Schlagwort, dass in diesem Zusammenhang oft genannt wird, ist die Kreislaufwirtschaft“, erklärt Sontow. Das Ziel der Kreislaufwirtschaft besteht darin, die Wertschöpfungskette so zu gestalten, dass Produkte und Komponenten regelmäßig in die Produktion oder den Nutzungszyklus zurückgeführt werden, anstatt sie zu vernichten. Dazu müssen Unternehmen ihre Auftragsabwicklung von der vorherrschenden ökonomischen und linearen Ausrichtung zu einer zirkulären und nachhaltigen Zielsetzung transformieren. „Hier stehen ERP-Systeme noch relativ am Anfang. Um das Werkzeug zur Auftragsabwicklung zu bleiben, müssen sie aber in Zukunft imstande sein, die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft abzubilden. Insgesamt wird uns der Trend der Abbildung von Nachhaltigkeitszielen im ERP-System wahrscheinlich noch weit über 2024 hinaus beschäftigen.“
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ERP-Trend 4: Cloud-ERP
Im ERP-Kontext ist die „Cloud“ für viele Unternehmen auch nach mittlerweile 10 Jahren immer noch eine zweifelhafte Alternative. Zu den meist genannten Bedenken gehören die Datensicherheit und -verfügbarkeit sowie die Abhängigkeit vom Dienstleister.
Trotzdem wächst die Zahl der Unternehmen, die in die (Private) Cloud migrieren und das nicht zuletzt deshalb, weil ÉRP-Anwender von ihren Software-Lieferanten derzeit aktiv in die Cloud gedrängt werden. So hat SAP in diesem Jahr angekündigt, dass es Innovationen, vor allem im KI-Bereich, nur noch für Cloud-Anwender geben wird. Auch andere ERP-Hersteller verfolgen „Cloud First“-Strategien. Die ehemalige Microsoft Axapta-Lösung, jetzt Microsoft Dynamics 365 Finance und SCM, und die Lösung Infor LN ERP stehen sogar ausschließlich als Public-Cloud-Lösung zur Verfügung
Software-Anwender sehen sich also vermehrt gezwungen, in die Cloud zu wechseln, wollen sie auch langfristig von den Innovationen im ERP-Umfeld profitieren. „Unsere Studie „ERP in der Praxis“ zeigt, dass die „Private Cloud“ mit einem Anteil von knapp 40 Prozent der Studienteilnehmer deutlich vorne liegt, während mit der „Public Cloud“ die „echte“ Cloud bisher nur auf eine Verbreitung von gut 20% der Installationen kommt“, berichtet Sontow. „Wenn die ERP-Hersteller weiter fast ausschließlich auf die Cloud setzen und nur dort in Innovationen investieren, ist hier in den kommenden Jahren ein deutlicher Anstieg zu erwarten.“
ERP-Trend 5: Vernetzung mit Shopfloor und Warehouse
Die Vernetzung von Maschinen, Werkzeugen und Werkstücken mit der Unternehmenssoftware, die im Rahmen der Umsetzung des Industrie 4.0-Konzeptes nötig wird, wird den Datenfluss zwischen den Anwendungen und damit die Durchgängigkeit der Geschäftsprozesse in den Unternehmen weiter vorantreiben.
„MES-Systeme stellen dabei den ‚Integrations-Hub‘, indem sie die Shopfloor-nahen Daten und Aktivitäten für die Verwendung im ERP aufbereiten bzw. von der ERP-Lösung den jeweiligen Kontext (Auftrag, Kunde, Prioritäten etc.) mit auf den Weg bekommt, um daraus die operative Planung und Steuerung auf dem Shop Floor abzuleiten“, erläutert Sontow. „Angesichts der auf diese Weise erzeugten Datenmengen sind zukünftig sogar belastbare Prognosen für die Entwicklung der Auftragssituation vorstellbar, die eine vorausschauende Disposition ermöglichen.“
Ganz ähnlich zeigt sich dieser Trend bei Handelsunternehmen, wobei hier die Warehouse Management Systeme (WMS) die Rolle des MES übernehmen. Dabei ist die Vernetzung mit der Handelsware, den Lager-, Kommissionier- und Transportsystemen hier vermutlich noch stärker ausgeprägt als in der Fertigung.
Derartige Szenarien stellen völlig neue Anforderungen an die ERP-Systeme, sei es im Hinblick auf die Anbindung der Fertigung (Sensorik, Übertragung, Aktorik) oder des Lagers, die Handhabung sehr großer Datenmengen (Übertragung, Speicherung, Verdichtung etc.) und letztlich auch den Einsatz geeigneter Dispositionsverfahren.
ERP-Trend 6: Individualisierung und Flexibilisierung selbst gemacht
Mithilfe von Low-Code/NoCode-Plattformen (LC/NC-Plattform) kann die Digitalisierung jenseits der Funktionalität der ERP- und Fachanwendungen auf eine schlanke und flexible Weise vorangetrieben werden und das oftmals sogar ohne tiefergehende Programmierkenntnisse durch den IT-affinen Fachanwender. So ist es selbst Software-Laien heute möglich, Brücken zwischen ihren Anwendungen zu bauen, um den Datenfluss optimal zu steuern. LC/NC-Plattformen werden immerhin von knapp 30% der größeren Unternehmen in der Studie „ERP in Praxis“ als Trend mit hoher Relevanz eingestuft.
„Für 2024 und darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Large Language Modelle auch im Bereich LowCode/No-Code stark an Relevanz zunehmen werden“, glaubt Sontow. „Diese sind in der Lage, Software-Code zu programmieren, der eine verbal beschriebene Aufgabenstellung bedient.“
Der Experte
Dr. Karsten Sontow ist Mitgründer und Vorstandsvorsitzender des auf Digitalisierungsprojekten spezialisierten Consultinghauses Trovarit AG.
Im Rahmen seiner Aufgaben in den Bereichen Research und Anbieter-Management setzt er sich insbesondere auch mit der Rolle von ERP-Software und ERP-Anbietern auseinander: sowohl bezüglich des ERP-Einsatzes im Unternehmenskontext als auch im Hinblick auf ihre Bedeutung als Treiber von Innovationen.
Dr. Sontow ist einer der Initiatoren der Anwender-Studie „ERP in der Praxis“, die alle zwei Jahre Erkenntnisse zu Zufriedenheit, Nutzen und Perspektiven des ERP-Einsatzes liefert. Er ist außerdem Vorsitzender des Arbeitskreises ERP des BITKOM.