Start ERP Der Low-Code-Boom: Wie Self-Made-Apps ERP-Lösungen herausfordern

Der Low-Code-Boom: Wie Self-Made-Apps ERP-Lösungen herausfordern

Die Anwendungsentwicklung mittels Low-Code-Plattformen zu vereinfachen, ist eigentlich ein alter Schuh. Seit fast zehn Jahren sollen solche Plattformen selbst Laien dabei behilflich sein, neue Anwendungen zu erstellen. Und in Zeiten von Fachkräftemangel, v.a. im Entwicklungsumfeld, erleben die Low-Code-Plattformen einen neuerlichen Boom. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob solche Self-Made-Applikationen ERP-Lösungen bald überflüssig machen können.

Low-Code
© mesh cube, istockphoto.com

Im Trend: Low-Code

Laut der aktuellen Studie „ERP in der Praxis“ hat die Relevanz der Low-Code-Entwicklung deutlich zugelegt. Unternehmen haben großes Interesse an der durchgängigen Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse. Mit Hilfe von Low-Code-Plattformen wird die Digitalisierung jenseits der Funktionalität der ERP- und Fachanwendungen auf eine schlanke und flexible Weise vorangetrieben. Immerhin 30 Prozent der großen Unternehmen (Mitarbeiter >500) sehen großes Potenzial in der Low-Code Entwicklung, bei den kleinen Firmen (20 bis 99 Mitarbeiter) sind es bereits 16 Prozent.

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Wie funktioniert Low-Code-Entwicklung?

Low-Code-Entwicklung ist eine Methode zur Erstellung von Anwendungen, bei der wenig bis keine herkömmliche Handcodierung erforderlich ist. Stattdessen basiert sie auf visuellen Tools und Drag-and-Drop-Funktionalitäten, um Anwendungen zu erstellen und Geschäftsprozesse zu automatisieren. In einer Low-Code-Entwicklungsumgebung steht den Entwicklern und Benutzern eine visuelle Benutzeroberfläche zur Verfügung. Diese Oberfläche enthält Werkzeuge, um Anwendungen zu gestalten und zu modellieren, ähnlich wie bei der Arbeit mit einer Grafikdesignsoftware. Innerhalb der Low-Code-Plattform gibt es oft vordefinierte Komponenten und Module, die für häufige Aufgaben oder Funktionen verwendet werden können. Dies können Benutzeroberflächenelemente, Datenbankverbindungen, Integrationen, Workflow-Steuerungen und mehr sein. Benutzer ziehen und platzieren diese vorgefertigten Komponenten und Module in einer visuellen Umgebung, um die Struktur und das Verhalten ihrer Anwendung zu definieren. Dies geschieht normalerweise ohne direktes Schreiben von Code.

„Self-Made-Applikationen“ in der ERP-Welt

Doch in welcher Art und Weise wird die Entwicklung von solchen „Self-Made-Applikationen“ in der ERP-Welt eingesetzt. Hat sie tatsächlich das Potenzial, die ganze ERP-Entwicklung durcheinander zu wirbeln? Ein Blick auf die verschiedenen Ausprägungen von Low-Code-Entwicklungsmodellen ist hier hilfreich. Hier lassen sich drei unterschiedliche Ansätze erkennen:

  1. Low-Code Customizing konzentriert sich auf die Anpassung und Konfiguration eines bereits vorhandenen ERP-Systems, um es an die spezifischen Anforderungen des Unternehmens anzupassen. Dies kann die Konfiguration von Geschäftsregeln, Formularen, Berichten, Benutzeroberflächen und Workflow-Steuerungen umfassen. Bei dieser Art von Customizing werden keine Änderungen am Quellcode des ERP-Systems selbst vorgenommen. Stattdessen werden die Konfigurationsoptionen und Tools genutzt, die das ERP-System bereits bietet, um Anpassungen vorzunehmen. Solche leistungsfähigen integrierten Customizing-Frameworks bieten aktuell SAP, Microsoft, GUS ERP und viele andere moderne ERP-Hersteller an.
  2. Die Low-Code ERP Extension ist hingegen für Unternehmen interessant, die ältere, relativ unflexible (Legacy-)Systeme im Einsatz haben. Low-Code ERP Extension bezieht sich auf die Entwicklung von zusätzlichen Anwendungen oder Funktionen, die in das bestehende ERP-System integriert werden. Diese Erweiterungen werden oft außerhalb des ERP-Systems entwickelt und können speziell auf die Geschäftsanforderungen zugeschnitten sein. Bei dieser Art von ERP Extension werden Low-Code-Entwicklungstools und Plattformen verwendet, um die zusätzlichen Anwendungen oder Funktionen zu erstellen. Dies ermöglicht eine schnellere Entwicklung und Anpassung. Dieser Ansatz zielt darauf ab, die Funktionalität des ERP-Systems zu erweitern, indem zusätzliche Module oder Anwendungen erstellt werden, die spezielle Anforderungen erfüllen, die das ERP-System selbst nicht abdeckt. Der Datenaustausch geschieht über Schnittstellen mit dem Back-End-System. Nahezu alle klassischen Low-Code-Anbieter verfolgen diesen Ansatz, darunter Mendix oder die Microsoft Power Platform. Auch das Low-Code-Angebot der SAP, SAP Build, wird genutzt, um ältere ERP-Versionen zu erweitern.
  3. Schließlich ist es denkbar, eine komplette ERP-Lösung mithilfe einer Low-Code-Plattform zu entwickeln oder zu portieren (sogenanntes „Low-Code ERP“). Dieser Ansatz nutzt visuelle Benutzeroberflächen und minimiert traditionelle handcodierte Programmierung, um die Entwicklung, Anpassung und Implementierung von ERP-Systemen zu beschleunigen und zu vereinfachen. Diese Plattformen sind jedoch heute und vermutlich auch in Zukunft für ERP-Anbieter die Exoten unter den Low-Code-Modellen und daher in der aktuellen Diskussion zu vernachlässigen. Anbieter wie Thinkwise oder Scopeland Technology importieren die Datenmodelle von Legacy-Applikationen, um somit eine Neuentwicklung zu vereinfachen und zu beschleunigen.

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Fazit

In Zeiten des Fachkräftemangels bieten Low-Code-Plattformen die Chance, die Anwendungsentwicklung zumindest teilweise in die Fachabteilungen zu verlagern. Da die Mitarbeitenden die Geschäftsprozesse bis ins Detail kennen, können sie über Low-Code Apps „entwickeln“, die auf ihre persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Doch ohne zumindest die Begleitung einer IT-Fachkraft ist das meist doch nicht möglich. Hinzu kommt, dass vor allem bei externen Plattformen eine enge Steuerung sowie ein professionelles Releasemanagement und Governance-Modell unverzichtbar sind.

Die Vorstellung, dass ERP-Systeme durch Low-Code-Entwicklung in den Unternehmen überflüssig werden könnten, ist derzeit noch reine Zukunftsmusik, denn die Entwicklung eines umfassenden ERP-Systems erfordert eine tiefgreifende Funktionalität und Integration, die schwer mit Low-Code-Tools allein zu erreichen ist.

Für ERP-Anbieter bietet die Low-Code-Entwicklung hingegen die Möglichkeit, sich wieder stärker auf die Entwicklung und Optimierung der Grundfunktionen zu konzentrieren und die Individualisierung ihrer Anwendungen in die Hände der Nutzenden zu legen.


Der Autor

Dr. Karsten Sontow ist Mitgründer und Vorstandsvorsitzender des auf Digitalisierungsprojekten spezialisierten Consultinghauses Trovarit AG.

Im Rahmen seiner Aufgaben in den Bereichen Research und Anbieter-Management setzt er sich insbesondere auch mit der Rolle von ERP-Software und ERP-Anbietern auseinander: sowohl bezüglich des ERP-Einsatzes im Unternehmenskontext als auch im Hinblick auf ihre Bedeutung als Treiber von Innovationen.

Dr. Sontow ist einer der Initiatoren der Anwender-Studie „ERP in der Praxis“, die alle zwei Jahre Erkenntnisse zu Zufriedenheit, Nutzen und Perspektiven des ERP-Einsatzes liefert. Er ist außerdem Vorsitzender des Arbeitskreises ERP des BITKOM. Im Rahmen dieser Tätigkeit ist das Diskussionspapier „Bedeutet Low-Code das Ende von ERP“ entstanden. Es bildet die Grundlage für diesen Beitrag.