Je komplexer die unternehmensweite Standardsoftware (ERP) ist, desto schwieriger werden die Release-Wechsel. Unternehmen sollten daher ihre Systeme möglichst nahe am Standard fahren, empfiehlt Dr. Karsten Sontow, Vorstandsvorsitzender des Consultinghauses Trovarit AG.
Interview zur Trovarit-ERP-Studie 2020/2021 | Teil 2
Die Studie „ERP in der Praxis“ läuft seit 2004, mittlerweile in der zehnten Auflage. Bewertet wurden in dieser Ausgabe weit über 100 ERP-Lösungen. Zu 41 Lösungen konnte das Analysten-Team von der Trovarit AG qualifizierte Aussagen treffen, zu den anderen Lösungen gab es, statistisch gesehen, nicht genügend Daten, daher werden diese Bewertungen nicht veröffentlicht.
Im ersten Teil des Interviews zur Trovarit-ERP-Studie 2020/2021 spricht Dr. Sontow über die Gewinner und Verlierer der diesjährigen Studie, in diesem zweiten Teil des Interviews geht es u.a. um die Herausforderungen bei dem Release-Wechsel.
Was hat sich im Vergleich zur vorherigen Studie verbessert, was hat sich verschlechtert?
Grundsätzlich sind die Bewertungen relativ stabil, denn es geht um IT-Infrastrukturen, die sich kurzfristig nicht ändern. Dennoch haben sich gegenüber der Vorgängerstudie an einigen Stellen Veränderungen ergeben. Ein Beispiel ist die mobile Nutzbarkeit der Software, die seit 2012 einer der größten Kritikpunkte war. Hier haben wir spürbare Fortschritte gemessen. Die Bewertungen liegen nun immerhin im Bereich ‚befriedigend‘, damit allerdings immer noch am unteren Ende dessen, was man sehen will.
Warum dauert es hier vergleichsweise lange, bis sich Erfolge einstellen?
Wir haben bei der mobilen Nutzung zwei Phänomene: Die Erwartungshaltung der Anwender ist vom Privatgebrauch getrieben, wo sie Digitalanwendungen aller Art problemlos auf Smartphones und Tablets nutzen. Das erwarten sie nun auch von der ERP-Software. Gleichzeitig fehlt der Mehrheit der installierten ERP-Anwendungen die technische Voraussetzung dafür, nämlich das Responsive Design, das dafür sorgt, dass sich eine Anwendung auf Endgeräten mit unterschiedlich großen Bildschirmen gut bedienen lässt. Die Hersteller mussten ihre Anwendungen von Grund auf ändern, damit sie in der aktuellen Version diese Disziplin beherrschen. Aufgrund der Tatsache, dass Release-Wechsel oft sehr aufwändig sind, haben viele Unternehmen noch ältere Versionen im Einsatz.
Sind die Release-Wechsel nicht einfacher geworden?
Es gibt kleine Fortschritte: Jahrzehntelang waren Release-Wechsel so aufwändig und schmerzhaft, dass Unternehmen sie gerne auf die lange Bank geschoben haben. Damit veraltet die Software-Infrastruktur. Heute sind diese Updates einfacher geworden, unter anderem deshalb, weil die Unternehmen ihre Lösungen enger am Herstellerstandard betreiben. In früheren Jahren wurden ERP-Lösungen häufig sehr stark individualisiert – das erschwert einen Release-Wechsel, weil dann sämtliche Individualisierungen händisch nachgezogen werden müssen. Viele aktuelle ERP-Lösungen sind teilweise auch durch Branchenspezialisierung sehr gut auf ein bestimmtes Geschäftsmodell zugeschnitten, wodurch der Bedarf an individuellen Anpassungen sinkt. Und schließlich können ERP-Lösungen mit moderner Software-Architektur zwingend notwendige Anpassungen deutlich leichter verwalten als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Stark in der Kritik steht die Dokumentation. Woran hakt es hier?
Die Kritik betrifft sowohl die Handbücher und Tutorials als auch die technische Dokumentation. Wird eine Software individualisiert, müssten eigentlich alle Änderungen dokumentiert und das Handbuch angepasst werden. Das ist allerdings im ERP-Markt nicht gerade eine Königsdisziplin: Oftmals machen sich Systemarchitekten wenig Gedanken, wie sie ihre Änderungen so dokumentieren, dass sie sich beim nächsten Release-Wechsel mit wenig Aufwand nachvollziehen lassen. Auch die Anwender bekommen vielerorts wenig Anleitung, wie sie sich in einer Lösung zurechtfinden, und müssen sich per Trial-and-Error vorwärts tasten.
Welche Rolle spielt ERP-Software generell im Unternehmen? Welche Aspekte sind hier stabil und was ändert sich gerade?
Der Haupteinsatzbereich einer ERP-Lösung ist die Auftragsabwicklung und die Steuerung von Ressourcen wie z.B. Personal, Werkzeug, Material und Geld. Auf der anderen Seite sammeln sich im ERP-System sehr viele wichtige Informationen, vom Kundenstamm über Material und Auftragsdaten bis hin zu Kosten und Erlösen. Deswegen stellt das ERP-System einen zentralen Informations-Hub für das gesamte Unternehmen dar. Und diese zentrale Position bleibt sicherlich erhalten, ich glaube allerdings nicht, dass sie noch ausgebaut wird. Die Digitalisierung dürfte künftig stärker in der ERP-Peripherie fortschreiten, da die Auftragsabwicklung in den meisten Unternehmen bereits digitalisiert ist. Bei Themen, wie z.B. der Produktentwicklung und Konstruktion, haben die Applikationen CAD (Computer Aided Design), PLM (Product Lifecycle Management) und PDM (Product Data Management) viel mehr Potenzial als eine klassische ERP-Lösung. Digitalisierung findet heute auch oft „unterhalb“ des ERP-Systems statt, beispielsweise im MES-System (Manufacturing Execution Solution), wenn es um Industrie 4.0 geht. Am Ende müssen aber alle Daten und Informationen wieder zusammengeführt werden, zum Beispiel für die Auftragsabwicklung. Dann erfolgt die Anbindung ans ERP-System. Dass das ERP selbst als Integrations-Backbone eingesetzt wird, finden wir meist bei kleinen und mittleren Unternehmen. Große Unternehmen nutzen eher einen speziellen Integrations-Layer in Form einer Enterprise Application Integration (EAI)-Lösung, an die das ERP-System und die anderen Applikationen andocken.
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Wie groß ist die Spanne in den Bewertungen zwischen gut und weniger gut?
Wir bewerten nach Schulnoten. Im Vordergrund steht die Zufriedenheit der Anwender mit einer Lösung und den Services des Anbieters. Hier beträgt die Notenspanne 1,5 Schulnoten. Die Bewertung beginnt bei einem ‚sehr gut‘ mit Abstrichen und endet im Bereich ‚befriedigend plus‘. Einzelne Teilnehmer bewerten ihre Lösung besser oder schlechter. Auch wenn der überwiegende Teil der Noten auf der guten Seite der Skala liegt, offenbart die Studie doch in Teilbereichen deutliche Probleme.
SAP drängt mit großen Schritten in die Cloud, Microsoft bietet die Dynamics-Lösungen ausschließlich als Cloud-Service an. Welche Chancen und Risiken sehen Sie bei diesem Wandel?
Hier muss man zunächst fragen, wo die großen Vorteile von Cloud-Szenarien für Unternehmen liegen. Als erstes die Entlastung vom ERP-Betrieb: Durch die hohe Standardisierung können die Hersteller die Lösungen praktisch kontinuierlich modernisieren. Das Schmerzthema Release-Wechsel ist hier sehr elegant gelöst. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Cloud eine sehr hohe Standardisierung voraussetzt. Einen Tod müssen die Unternehmen sterben: Entweder bauen sie eine individuelle Lösung – dann haben sie einen hohen Aufwand bei der Implementierung und beim Release-Wechsel – oder aber sie nehmen eine hochstandardisierte Cloud-Lösung, die nicht jede individuelle Anforderung bedienen kann.
Manche Unternehmen erhoffen sich durch die Cloud Einsparungen. Trifft das in der Praxis zu?
Nicht unbedingt. In der Cloud geht es zumeist um Subscription Pricing. Man mietet eine bestimmte Benutzerrolle pro Monat oder pro Jahr – im Durchschnitt betreiben die Unternehmen eine solche Infrastruktur 16 bis 17 Jahre lang. In den meisten Fällen liegen die Kosten bei Subscription-Modellen nach gut 3-5 Jahren oberhalb der Kosten für den klassischen Lizenzkauf in Verbindung mit Wartungsgebühren. Darüber hinaus werden bei den Subscription-Modellen die Preise meist nur für ein Jahr garantiert, in Ausnahmefällen für drei Jahre. In der Akquise gewähren die Anbieter den Unternehmen dabei häufig hohe Nachlässe, teilweise von 70 bis 80 Prozent. Ich würde mich in einer solchen Situation fragen, wie kalkulierbar die ERP-Infrastrukturkosten über die Laufzeit hinweg sind. Was ist, wenn in drei Jahren der Rabatt für die Nutzerrolle „Anbindung der Kassen“ wegfällt und das Unternehmen dafür statt 90.000 Euro auf einmal den Listenpreis von 900.000 Euro pro Jahr zahlen muss? Derartige Fälle haben wir in unserer Beratungspraxis bereits mehrfach erlebt.
Unterscheidet sich die Zufriedenheit der Anwender zwischen On-Premise- und Cloud-Installationen?
Auf den ersten Blick, ja. Aber man muss hier mehrere Szenarien unterscheiden: Neben der klassischen On-Premise-Variante gibt es die Private Cloud und die Public Cloud. In der Public Cloud nutzen viele Unternehmen eine hochskalierbare Infrastruktur gleichzeitig über das Internet. Bei einer Private Cloud bekommt jedes Unternehmen eine isolierte Instanz: Das bietet Sicherheitsvorteile und ermöglicht eine größere Individualisierung. Beim Vergleich fällt auf, dass die Public-Cloud-Installationen die besten Zufriedenheitswerte erzielen, dicht gefolgt von den Private-Cloud-Installationen. Die schlechtesten Werte finden sich bei den On-Premise-Installationen. Man sollte daraus aber keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn die Public-Cloud-Szenarien sind typischerweise kleine und schlanke Implementierungen unter 25 Usern, während die On-Premise-Szenarien deutlich größer und damit auch komplexer ausfallen. Die Komplexität überdeckt hier alle anderen Faktoren.
Können Sie nicht die Cloud-Installationen hinsichtlich ihrer Komplexität gruppieren?
Nein. Dafür reichen die Daten nicht aus. Aber wir können folgende Aussage belegen: Die Public Cloud hat Einschränkungen hinsichtlich Anpassbarkeit, Flexibilität und Schnittstellen. Genau hier schneiden die Private-Cloud-Szenarien viel besser ab – sogar besser als viele On-Premise-Installationen. Insgesamt stellt die Private Cloud in der Zufriedenheit einen Kompromiss zwischen On-Premise und Public Cloud dar.
Gibt es heute noch Einsatzszenarien, für die Cloud-Lösungen gar nicht passen?
Ja. Die meisten Cloud-Lösungen sind in der Offline-Fähigkeit stark eingeschränkt. Es gibt aber durchaus Anwendungsszenarien, die offline arbeiten müssen. Zum Beispiel der Aufzugsbau, denn dort haben die Monteure in den Aufzugsschächten keinen Empfang. Oder ein international aktives Unternehmen betreibt Produktionsstätten in Ländern mit einer schwachen Kommunikationsinfrastruktur. Wenn dort die Internetanbindung zusammenbricht und deshalb ein Produktionswerk mit 1.000 Mitarbeitern einen Stillstand erleidet, wird das extrem teuer. Eine Cloud-Lösung, die nicht offline läuft, passt hier gar nicht. Nun gibt es zunehmend Cloud-Lösungen, die nicht komplett On-Premise betrieben werden können, weil sie ihren Mehrwert mit Services erzeugen, die sie – z.T. auch von Drittanbietern – kontinuierlich aus dem Internet beziehen. Deswegen tut sich auch Microsoft so schwer, ihre Cloud-Lösung Dynamics 365 Finance & Operations als On-Premise-Version anzubieten. Das ist nach unserer bisherigen Erfahrung faktisch nicht möglich. Einer unserer Kunden wollte diese Microsoft-Cloud-Lösung aus Sicherheitsgründen im hauseigenen Rechenzentrum betreiben. Bei der Umsetzung gab es sehr große technische Probleme. Auch Microsoft dürfte mit diesem Szenario nicht wirklich glücklich sein.
Marktstudie | ERP in der Praxis
ERP in der Praxis: Anwenderzufriedenheit, Nutzen & Perspektiven 2022/2023
⇒ Im Management Summary finden Sie die wichtigsten Ergebnisse der Studie.
Der Gesprächspartner
Dr. Karsten Sontow ist Mitgründer und Vorstandsvorsitzender des auf ERP-Auswahl und -Betrieb spezialisierten Consultinghauses Trovarit AG.
Der Autor
Jürgen Frisch ist seit mehr als als 20 Jahren als Journalist in der IT-Branche unterwegs. Für die IT-Matchmaker®.news verfasst er aktuelle Nachrichten und Interviews.